das Geschäftsjahr 2011/12 war nicht nur durch ein schwieriges konjunkturelles Umfeld geprägt, sondern brachte für den voestalpine-Konzern auch sehr spezifische zusätzliche Herausforderungen, deren Entstehungsgeschichte zum Teil weit in die Vergangenheit zurückgeht. Dies gilt insbesondere für das seit dem Frühjahr 2011 beim deutschen Bundeskartellamt anhängige Verfahren im Bereich Eisenbahnoberbaumaterial („Schienenkartell“), dessen Wurzeln sehr lange zurückliegen. Die voestalpine AG hat sich in diesem von ihr selbst initiierten Verfahren zu vorbehaltloser Zusammenarbeit mit den Behörden bekannt und es gleichzeitig zum Anlass genommen, die konzernalen Compliance-Strukturen einer umfassenden Erneuerung zu unterziehen. Mit der seit Herbst 2011 geltenden Compliance-Organisation verfügt der Konzern heute über ein alle Ebenen erfassendes Instrumentarium einschließlich eines zeitgemäßen Hinweisgebersystems zur Sicherstellung einer ordentlichen Unternehmensführung auf Basis des letzten internationalen Erkenntnisstandes in diesem Bereich.
Vergleichsweise kurz dagegen ist der Zeitraum, seit dem die BÖHLER-UDDEHOLM-Gruppe – heute voestalpine Special Steel Division – zum Konzern der voestalpine AG gehört. Aber allein die gemeinsame Entwicklung in den rund fünf Jahren seit dem Erwerb der Mehrheit im Sommer 2007 hat nicht nur die strategische, sondern auch die operative Richtigkeit dieser Übernahme bestätigt. Strategisch heute hervorragend und deutlichen Mehrwert schaffend in den Konzern integriert, hat die Edelstahlgruppe auch von den operativen Kennzahlen her trotz der Krise der Jahre 2008 und 2009 die Erwartungen des Jahres 2007 heute längst in jeder Beziehung erfüllt. Vor wenigen Wochen endgültig abgeschlossen werden konnten auch die Verhandlungen über die finale Bewertung jener BÖHLER-UDDEHOLM-Anteile, über deren Kaufpreis es im Zuge des Squeeze-out-Verfahrens zunächst keine Einigung gab. Mit 3. Mai 2012 wurde der entsprechende Vergleich vom zuständigen Gremium ohne Einschränkungen genehmigt. Damit ist auch dieses letzte Kapitel der bisher größten österreichischen Industrieakquisition endgültig beendet.
Eine ganz andere, nämlich eine unendliche Geschichte droht der Kampf Europas um seine Zukunft zu werden. Wir haben an dieser Stelle in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass Europa endlich Führungskompetenz und Zielorientierung braucht, sich endlich dazu aufraffen muss, seine öffentlichen Ausgaben in den Griff zu bekommen und zum Teil über Jahrhunderte gewachsene politische Verwaltungsstrukturen auf das für eine moderne Gesellschaft notwendige Ausmaß zu reduzieren. Die aktuelle Entwicklung in den Staaten Südeuropas sollte als Zeichen an der Wand verstanden werden, dass Reformen in vielen Ländern längst überfällig sind – aber nicht bloß im Sinne kosmetischer Veränderungen, sondern es braucht eine grundlegende Neuorientierung, und zwar auch eine des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Die zunehmende Tendenz in vielen Ländern, sich auf die gleichzeitig immer geringer werdende Lösungskompetenz „des Staates“ oder „der Politik“ zu verlassen, lässt Europa im härter werdenden globalen Wettbewerb Schritt für Schritt zurückfallen. Was Europa braucht, sind ambitionierte Unternehmen und engagierte Mitarbeiter, für deren Wettbewerbsfähigkeit die Politik entsprechende Rahmenbedingungen schafft – und nicht eine zunehmend staatlich regulierte Gesellschaft, die sich zu Lasten und auf Kosten von uns allen in Orwell’sche Dimensionen entwickelt.
Eine Diskussion über europäische Werte, Ziele und moralische Grundsätze verbunden mit der Bereitschaft, in allen Lebensbereichen wirklich Verantwortung zu übernehmen, ist längst überfällig. Die Delegation der Verantwortung an anonyme Staatsapparate und eine Politik, die sich im Interesse ihrer Wiederwahl lieber an Meinungsumfragen als an den langfristigen Notwendigkeiten unserer Gesellschaft orientiert, stellt jedenfalls keine Lösung dar. Es geht darum, den nächsten Generationen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen, und das braucht mehr, als nur gleichermaßen schwärmerisch-idealistische wie unrealistisch-utopische Ressourcen- und Umweltagendas zu entwickeln. Das braucht vielmehr eine ausgewogene Betrachtung aller Grundbedürfnisse der Menschen – von Arbeit und sozialer Sicherheit über Bildung und Gesundheit bis zum sorgfältigen Umgang mit Ressourcen und Umwelt – und vieles mehr. Nur wenn die Gewichtung all dieser unser Dasein bestimmenden Faktoren zueinander stimmt, ist das Leben auch in Zukunft lebenswert. Daran haben wir konsequent zu arbeiten, auch im Bewusstsein, dass dabei der Realwirtschaft, der Industrie, eine zentrale Rolle zukommt.
Für den voestalpine-Konzern hat das neue Geschäftsjahr insofern eine ganz besondere Bedeutung, als wir die vor rund zwei Jahren begonnene Arbeit an der langfristigen Ausrichtung unseres Unternehmens heuer zu einem erfolgreichen Ende bringen wollen. Die in den letzten Jahren enorm gestiegene Volatilität unseres operativen Umfeldes, aber auch die sich in immer kürzeren Abständen ändernden Rahmenbedingungen unseres Handelns machen langfristige wirksame Entscheidungen zu einer enormen Herausforderung. Es sind schon sehr viele bewegliche Ziele, mit denen man in diesem Prozess konfrontiert ist. Sich dieser Herausforderung aber nicht zu stellen hieße, seinem Unternehmen eine geordnete Zukunft zu verweigern und damit genau das zu tun, was wir umgekehrt der Politik in immer stärkeren Maße vorwerfen: nämlich durch permanentes Zuwarten die Zukunft in Frage zu stellen.
Eines zeichnet sich in der Diskussion über die Zukunft der voestalpine jedenfalls bereits heute klar ab: Wir werden alles daransetzen, unsere Position als führendes Unternehmen in Bezug auf Technologie, Innovation und Qualität mit größter Konsequenz weiter auszubauen, und dabei den Fokus unseres Handelns noch stärker als bisher auf die Transformation vom Werkstoffunternehmen zu einem Technologie- und Verarbeitungskonzern legen. Dabei wird der Werkstoff Stahl in seiner anspruchsvollsten Form zweifellos auch in Zukunft die Basis darstellen, allerdings nur in jenem Umfang, als dies die weitere Entwicklung der Rahmenbedingungen in Europa sinnvollerweise zulässt. In jedem Fall werden wir unsere Entscheidung so treffen, dass die künftige Entwicklung des voestalpine-Konzerns in größtmöglichem Einklang mit den langfristigen Interessen und Erwartungen sowohl unserer Mitarbeiter als auch unserer Kunden und Aktionäre steht.
Linz, 26. Mai 2012
Der Vorstand
Wolfgang |
Herbert |
Franz |
Robert |
Franz |